Ein Tag in der Gedenkstätte Hadamar: „Es war, als wären sie alle irgendwie noch da.“
Die Klasse 10c besuchte am 22.3.2024 die Gedenkstätte Hadamar. Leah Münch schildert ihre Eindrücke:
Am 22.03.2024 besuchten wir, die Klasse 10c des Goethe-Gymnasiums Bad Ems, die Gedenkstätte Hadamar im mittelhessischen Landkreis Limburg-Weilburg. Die Fahrt dorthin dauerte grob 40 Minuten, bis dahin waren wir noch alle gelassen. Wir waren auf Leidensgeschichten der Opfer des nationalsozialistischen Regimes eingestellt, Schicksale, welche Hunderttausende von Menschen teilen, Geschichten, die sich im Grunde ähneln und die man immer wieder hört – so jedenfalls dachten wir.
Am Eingang wurden wir empfangen und durch den Flur in einen Konferenzraum geführt. Dort wurde uns über die Vergangenheit des Hauses und Hintergründe der Einweisungen in die damals angebliche „Heilanstalt“ Hadamar berichtet.
Durch das Analysieren von Propagandapostern aus dieser Zeit wurde uns das Streben der Nationalsozialisten nach einem starken, „gesunden“ deutschen Volk bewusst. Die Nationalsozialisten sprachen von einer „Reinigung“ und meinten „Ermordung“ und „Zwangssterilisation“. Nur die wenigsten von uns wussten, welche Ausmaße diese wirklich annahm und wer dem Regime neben den Juden noch alles zum Opfer fiel. Die von der „Aktion T4“ zum Tode verurteilten „Minderwertigen“, wie die Nazis sie nannten, konnte man laut ihnen in Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, psychischen Erkrankungen und angeborenem Schwachsinn klassifizieren. Da kam uns natürlich die Frage auf, was überhaupt unter den Begriff „Schwachsinn“ fällt und schnell fanden wir auch eine Antwort auf diese – es gab keine Definition und das aus gutem Grund. „Eine so schwammige Diagnose konnte man größtmöglich anwenden.“, wie ein Mitschüler feststellte.
Zusammen begaben wir uns dann in den Innenhof, wo wir erfuhren, wie die Menschen dort ankamen. Die Busse hatten sichtundurchlässige Fenster und wurden bei Ankunft in eine hierfür ausgerichtete hölzerne Busgarage gefahren. Die Neuankömmlinge wurden dann durch einen Gang ins Gebäude hineingeführt, um sie darüber im Unklaren zu lassen, wo sie sich befanden und wie sie dorthin kamen. Sie waren völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Ihre Angehörigen hatten keine Möglichkeit, sie zu kontaktieren. Und die, die es geschafft hatten, herauszufinden, wo sich ihre Liebsten befanden, bekamen nur mitleidige Blicke und sie wussten: Wer die „Heilanstalt“ Hadamar betrat, würde sie höchstwahrscheinlich nicht lebend verlassen. 15.000 Menschen, die alle das Gebäude auf demselben Weg betraten und denen das gleiche Schicksal widerfuhr. Mit diesem Wissen gingen auch wir diesen Weg wieder zurück in den Konferenzraum.
Unsere nächste Aufgabe bestand darin, diverse Zitate, welche uns zuvor von der Exkursionsleiterin zur Verfügung gestellt wurden, in einen Zeitstrahl einzuordnen. Die Inhalte stammten von verschiedensten Personen, viele waren menschenverachtend, manche jedoch in den Zeiten, aus denen sie stammten, ganz normal. Sie bezogen sich vermehrt auf Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen. Die Auflösung, in welche Zeit sie wirklich gehören, blieb aber zu dem Zeitpunkt noch offen.
„Wer möchte, darf hier oben bleiben, es besteht auch immer die Möglichkeit wieder nach oben zu gehen.“ Langsam wuchs die Anspannung und es wurde ruhig. „Als wir im Keller waren, war der Geruch das Erste, was mir aufgefallen ist“, so Elifnur Köroglu. Und sie war nicht die einzige. Einige beschrieben ihn süßlich, während andere ihn als eher beißend empfanden. „Als hätte sich ihr Geruch in die Wände gefressen. Es war, als wären sie alle irgendwie noch da.“
Uns wurde Zeit gegeben, um uns eigenständig umzusehen und alles auf uns wirken zu lassen. Es dauerte nicht lange, bis wir dann auf die Kammer stießen. Der Boden und die Wände verkleidet mit weißen Fliesen. „Das sieht fast aus wie mein Bad“ mit dem wesentlichen Unterschied, dass es keine Duschköpfe gab, kein Waschbecken, keine Badewanne, dass es anstatt einer Wasserleitung ein dickes Rohr gab, welches an die mit Kohlenmonoxid gefüllten Gasbehälter in dem Raum nebenan angeschlossen war.
Auf einer der beiden Türen der Gaskammer erkannten wir die Silhouette eines Kreuzes. Ein Symbol für Nächstenliebe und Akzeptanz, welches auf der einen Seite ragte, während auf der anderen Seite Menschen ermordet wurden.
Außerhalb der Gaskammer waren Schleifspuren zu sehen. Wie wir lernten, nutzten die Nazis eine besondere Art Gestein, um den Transport der Toten zu den Krematoriumsöfen zu erleichtern, von denen heute nur noch die Fundamente vorhanden sind.
Langsam und leise gingen wir wieder hinauf. Die Geschichten der Opfer zu hören, hatte auf uns eine ganz andere Wirkung, nachdem wir dort standen, wo sie ihr Leben lassen mussten. Wir versammelten uns in einem Ausstellungsraum mit Gedenktafeln zu den verschiedensten Schicksalen.
Richard G. ist mir dabei besonders im Kopf geblieben. Richard war ungefähr so alt wie wir, als er nach Görden in die Landesheilanstalt kam und etliche, menschenunwürdige Versuche an ihm durchgeführt wurden. Zwei Jahre später wurde er dann im Alter von 17 Jahren in Hadamar ermordet. Sein Vergehen? - Eine geistige Zurückgebliebenheit.
Wie uns dann erklärt wurde, ließ man den Hinterbliebenen einen sogenannten Trostbrief zukommen, da Richard allerdings ein Waisenkind war, findet man hier die angebliche Todesursache „Herzschwäche“ und „Verfall bei angeborenem Schwachsinn“ nur in den Aufzeichnungen von Hadamar. Mit den fiktiven Todesursachen versuchte man, die Wahrheit zu vertuschen. Auch der Todeszeitpunkt und teilweise auch der Todesort wurde geändert. Angeboten wurde Hinterbliebenen nur die Urne „mit den verbrannten Überresten des Verstorbenen“. Die Zustimmung zur Kremierung mussten die Verwandten jedoch nie abgegeben. Genau genommen wurden sie erst von dem Tod informiert, nachdem der verstorbene eingeäschert wurde. Das lag daran, dass sie die Menschen direkt nach der Ermordung in Massen verbrannt wurden. Auch dies wurde gedeckt von der angeblichen „Kontaminationsgefahr des Schwachsinns“, wie man in den etlichen Briefen nachlesen konnte. Die Hinterbliebenen hatten demnach unwissentlich die Überreste aller Verbrannten in der Urne und nicht nur des Einzelnen. Viele wurden auf einem neu angelegten Anstaltsfriedhof in Massengräbern bestattet. 10 – 20 Menschen lagen dort beieinander, die eigentliche Stelle, wo sie wirklich begraben wurden, wurde nicht gekennzeichnet. Diese Unmenschlichkeit setzte vielen zu und war für viele eines der einprägendsten Momente. Einige verließen den Raum, manche fingen an zu weinen. „Es war erschreckend […]“, wie Samuel Kölsch nachher berichtet.
Um uns ein paar Geschichten näher zu bringen, wurden wir in Gruppen eingeteilt. Jede hat einen kleinen Karton bekommen. Darin enthalten waren jeweils Aufzeichnungen mit der Lebensgeschichte eines der Opfer und ein paar Gegenstände, verbunden mit ihrer Geschichte. In einem Karton ein Kinderschuh, im nächsten eine Malpalette - Getötet wegen Epilepsie, getötet wegen Depressionen, getötet wegen Homosexualität, getötet wegen Blindheit und die Liste geht weiter.
Zum Abschluss dieser Exkursion wurden die von uns zuvor zeitlich eingeordneten Zitate aufgelöst. Bei den meisten haben wir es geschafft, den ungefähren Zeitpunkt auszumachen. Während wir viele einfach in die Zeit der 1940er Jahre und davor einordnen konnten, schockierte uns das Letzte jedoch stark. Denn auch, wenn es in die damalige Zeit gepasst hätte, stammte es aus dem Jahr 2020 von einem Mitglied der AfD-Fraktion, welches sich im Grunde gegen die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen aussprach.
Hier fängt unsere Verantwortung an. „Die Geschichten dieser Menschen sollten immer in Erinnerung bleiben und nie vergessen werden, damit sich die Geschichte unter keinen Umständen wiederholt.“, so Victoria Gebert. Wir tragen keine Schuld daran, was in der Vergangenheit passiert ist, aber es ist unsere Aufgabe, gegen Vorurteile und Ungerechtigkeit vorzugehen. Hadamar hat verdeutlicht, „wie wichtig Demokratie ist und diese auch in Zukunft beizubehalten“, fasst Sophia Boss nochmals zusammen. Die Zukunft liegt in unseren Händen.
Text | Leah Münch, Klasse 10c |
Bild | LWV-Archiv, K 12, Nr. 4256 |