GOETHEs ‚Werther‘, die 250. Wiederkehr des 13./14. September 1772 und das Gymnasium in Bad Ems

 

GOETHEs ‚Werther‘, die 250. Wiederkehr des 13./14. September 17721 und das Gymnasium in Bad Ems

Es gibt in Deutschland viele Schulen, die sich nach dem ‚Dichterfürsten‘ benennen; oftmals jedoch ohne einen historisch nachvollziehbaren Bezug. Solcherlei Bezüge zum Emser ‚Goethe-Gymnasium‘ existieren dagegen tatsächlich schon, wie der folgende chronologische Abriss verdeutlichen möchte.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war insgesamt viermal in Bad Ems: einmal 1772, kurz hintereinander zweimal 1774 und dann noch ein deutlich späterer Besuch beim Reichsfreiherrn Friedrich Karl von und zum Stein (1759-1831) vornehmlich in Nassau. Literarisch wesentlich bedeutsamer im Zusammenhang mit Entstehung und früher Rezeption seines ersten Welterfolges waren die drei frühen Besuche in Bad Ems.

Der junge Jurist Dr. Goethe und schon weithin bekannte Sturm und Drang Autor des ‚Götz von Berlichingen‘ verbrachte von Mai bis September 1772 eine Art Hospitation am Reichskammergericht in Wetzlar, dem ranghöchsten Gericht des altehrwürdigen ‚Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation‘. Hier lernte er die damals mit dem königlich-hannoveraner Beamten Johann Christian Kestner (1741-1800) verlobte Charlotte Buff (1753-1828)

kennen und verliebte sich in sie. Obwohl seine Beziehung zu beiden eine ausgesprochen gute geblieben war, reiste Goethe fluchtartig am Freitag (11. September) „sehr niedergeschlagen“ ab, „ohne [von irgendjemand] Abschied“ genommen zu haben. Seine zweitägige Fußwanderung die Lahn hinab konnte wohl seine Frustration so weit abbauen, dass er bei seinem ersten Besuch im hessisch-darmstädtischen Kurbad Ems am Sonntag (13. 09.) „des sanften Bades genoss“. Offenbar so weit wieder beruhigt, ließ er sich dann am Montag (14. September), ganz im Sinne ‚Werthers‘ von der Natur entzückt, mit einem Kahn bis zur kurfürstlich-trierischen Residenzstadt Ehrenbreitstein fahren. Dort begann er, gut versorgt im Hause der Beamten- und Literatenfamilie von Laroche, wohl schon mit einer Art literarischer Vorkonzeption des späteren Briefromans ‚Die Leiden des jungen Werthers‘. Das war neben seiner Ablenkung durch die Bekanntschaft mit der sechszehnjährigen Maximiliane von Laroche (verh. Brentano 1756-1793), die zum Vorbild für die Züge ‚Lottes‘ wurde, Goethes Methode der Verarbeitung persönlicher Probleme!

Zwei Jahre später war der ‚Werther‘ noch nicht veröffentlicht und Goethe erreichte, nach einer zweitägigen Express-Kutschenfahrt aus Frankfurt kommend, am 29. Juni 1774 wieder den angenehmen Ort Bad Ems; diesmal begleitete er einen Bekannten, den damals überaus populären Züricher Aufklärungsliteraten und Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801) zur Kur. Lavater predigte2 sehr inspirierend insgesamt dreimal vor der Emser Gemeinde und eigens angereisten Gästen.

Nach seiner planmäßig vorgesehenen baldigen Rückreise nach Frankfurt (30. Juni) begleitete Goethe dann den Hamburger Pädagogen, Schriftsteller und Philanthropen Johann Bernhard Basedow (1724-1790)3 ebenfalls zur Kur nach Bad Ems. Ein Zusammentreffen solch unterschiedlicher Theorien und Charaktere wollte sich „Dr. Goeddée4 nicht entgehen lassen und schloss seine Frankfurter Anwaltskanzlei!

 

(Stadtarchiv Bad Ems)

Direkt nach ihrer Ankunft kam es am Freitag (15. Juli) im Anschluss an das Nachtessen im Fürstlich-Oranien-Nassauischen Badehaus [heute Teile von Häckers Kurhotel] zu langen wechselvollen literarischen Gesprächen in Anwesenheit von Teilen des ‚rheinischen Kreises‘ (nach Adolf Bach) von Goethe und ihm teilweise bekannten Emser und auswärtigen Gästen.5 Dies stellte wohl den ersten größeren Rezipientenkreis des ‚Werther‘ dar. Basedow las einen herrlichen Aufsatz von Goethe [vor]; Goethe selber hatte sein im April fertiggestelltes unveröffentlichtes Manuskript des zweiten Buchs des ‚Werther‘ mitgebracht; die Erstfassung sollte wohlweislich anonym6 erst nach dem 29. September 1774 auf der Leipziger Buchmesse veröffentlich werden!

 

Lavater, dessen Brieftagebuch für diese Zeit großen Quellenwert besitzt, las zunächst daraus vor. Er konnte danach nicht mehr damit aufhören, im Stillen bis zum Schluss weiterzulesen und verbrachte mit der „schreklichen Geschichte“ eine schlaflose Nacht im gemeinsamen Zimmer 48/49 des Nassauischen Kurhauses. Goethe, dessen auratischer Persönlichkeit sich auch hier viele Türen öffneten, aber zeichnete währenddessen auf Wunsch begeisterter Gäste noch Silhouetten – im damaligen literarischen ‚Sturm und Drang‘ ein vielgesuchter Beweis von ‚Freundschaft‘, dem übrigens auch ‚Werther‘ nachging (Brief vom 24. Junius). Enthusiasmiert ritzte (!) Goethe nach langer Nacht schließlich in die Tapete seines Emser Hotelzimmers noch die Erinnerungsverse:

wenn du darnach was fragst,
wir waren hier,
du, der du nach uns kommen magst,
hab wenigstens so frisches Blut
u: sey so leidlich, fromm und gut
u: leidlich glücklich, als wie wir!
Den 18jul. 74. Goethe
.

Lavaters Maler Georg Friedrich Schmoll († 1785) fertigte dann am Morgen des 17. Juli ein Schattenrissporträt mit Widmung und eine Kohlezeichnung von Goethe an, wohl während sich dieser dabei rasieren ließ!

Heute macht man Handy-Selfies zur Erinnerung! Am Montag (18. Juli) reisten Goethe und Basedow aus Bad Ems ab und begaben sich per Schiff zunächst in die gräflich-wiedische Residenzstadt Neuwied.

Nach weiteren Abstechern bis in die herzogliche Residenzstadt Düsseldorf und Gesprächen mit t.w. bedeutenden Persönlichkeiten (u.a. Wilhelm Heinse, Friedrich Jacobi, Johann Heinrich Jung-Stilling) hielten sich die beiden dann schließlich vom 28. Juli bis 12. August wieder in Bad Ems auf und verlebten noch eine heitere Kur.

1949, im 200. Geburtsjahr Goethes (Beitrag VI. zum 175jährigen Bestehen des GG), wechselte die alte Kaiser-Friedrich-Schule ihren Namen mit dem des ‚Dichterfürsten‘; eine Benennung nach dem Selbstmörder ‚Werther‘ war und wäre wohl auch nicht angebracht gewesen.

 

[1] Alle Angaben nach Bach, Adolf: Aus Goethes Rheinischem Lebensraum. Menschen und Begebenheiten. (Jahrbuch Verein f. Denkmalpflege und Heimatschutz 1967/68). Neuss 1968; Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Bd. 1 1764-1795, hg. von Karl-Hein Hahn. Weimar 1980; Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik. Bd. I, 1749-1775, hg. von Robert Steiger, Zürich 1982; https://www.jgoethe.uni-muenchen.de/leben/lavater.html <30.06.2022>; zuletzt Schencking, Martin: Sturm und Drang im kaiserlichen Bad. Johann Wolfgang von Goethe in Bad Ems. Zell / Mosel 2021, 20, 24, 32, 47-60.

[2] Zwei Predigten liegen gedruckt vor, Frankfurt a.M. 1774.

[3] Sein damals vielbeachtetes Hauptwerk ‚Elementarbuch für die Jugend und die Lehrer‘ betont eine psychologisierende Pädagogik. Nach seinem Enkel Carl ist die gleichnamige Krankheit benannt.

[4] Vgl. Abb. 2. Man meint noch heute zu hören, wie der Kutscher in breitem Frankfurterisch dem Emser Posthalter den Namen des Dichterfürsten zurief. Der Inhaber der Posthalterei [Pferdewechsel, Hotel, Postsendungen] hatte u.a. die Aufgabe, die Namen der ein- und ausreisenden Gäste zu notieren und der Gemeindeverwaltung für die abgebildete Veröffentlichung zu melden.

[5] Für mögliche Zuhörer vgl. die Liste der anwesenden (Brunnen)gäste vom 29. Juni bis 18. Juli: u.a. ein Graf von Wittgenstein; einer der beiden hervorragenden Möbelfabrikanten Röntgen aus Neuwied – Abraham (1711-1793) oder David (1743-1807); einer der beiden Schwermetall-Fabrikanten Remy [heute Rasselstein] aus Bendorf; Goethe besuchte die überaus kunstsinnige Familie am 18. 07. 1774 in Vallendar [heute Goethe-Haus]; zwei Hofprediger aus den benachbarten Kleinresidenzen Dierdorf und Diez-Oranienstein. Weiterhin ein Graf von Stolberg mit Gattin – also nicht der berühmte empfindsame Schriftsteller und Goethe-Freund Friedrich-Leopold (1750-1819). Allerdings kam es bald zu einem bemerkenswerten, weil unwahrscheinlichen Briefwechsel zwischen dessen Schwester, der Gräfin und pietistischen Stiftsdame Auguste von Stolberg (1753-1835) und dem ‚Stürmer und Dränger‘ Goethe.  

[6] Im Juli 1774 war mit dem Trauerspiel ‚Clavigo‘ überhaupt das erste Werke Goethes gedruckt worden, das unter seinem Namen erschien.

 

Text Dr. Thomas Bohn
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